Arbeit ist das halbe Leben. Yoga kann das ganze sein.

Von Marie Neuhalfen am 27. Februar 2020

Yoga ist heute ein teuer vermarktetes Allheilmittel gegen Stress und für einen healthy Lifestyle. Was dabei unter den Tisch fällt, ist was Yoga ursprünglich bedeutet und welche Potentiale, über die werblich versprochenen hinaus, diese Philosophie bereit hält – insbesondere für unseren Arbeitsalltag.

von Marie Neuhalfen

In die Natur gehen, um Ruhe zu finden. Daran denkst du an stressigen Arbeitstagen und in überfüllten Bahnen. Nur lässt das Stadtleben, der Job und ein voller Terminkalender diese Flucht selten in den richtigen Augenblicken zu. Deswegen können Strategien für einen achtsamen Umgang mit unserem Alltagsleben mehr helfen als die Flucht aus eben jenem. "Auch am stillsten Ort wirst Du niemals Ruhe finden können, wenn es in Dir selbst laut ist". Das hat vor einigen Jahren mein Yogalehrer gesagt und mir damit die Augen weiter geöffnet, als mir damals bewusst war.

Wir sind gestresst. Laut TK-Stressstudie sind 71% der 18- bis 29-jährigen Deutschen gestresst durch ihren Job. Mit zunehmendem Alter kommen dann noch Stressfaktoren wie Familie und private Verpflichtungen hinzu – jede Lebensphase hat ihren besonderen Stressauslöser. Gehört also irgendwie zum Leben dazu. Oder?

Muss es nicht! Die Reaktionen unseres Körpers auf Stress sind evolutionsbiologisch begründet, denn sie sollen uns auf eine Kampf- oder Fluchtreaktion vorbereiten. Fühlen wir uns gestresst, schütten wir die Stresshormone Adrenalin, Noradrenalin und Cortisol aus. Dadurch steigen Blutdruck und Puls, unsere Atmung wird schneller und die Muskeln spannen sich an. Nur müssen wir meistens weder flüchten noch kämpfen und brauchen diese Funktionen überhaupt nicht. Stehen wir häufig unter Stress, können die Stresshormone sogar krank machen.

Die Medizin und Krankenkassen empfehlen daher immer häufiger Entspannungstechniken. Diese können das Stresslevel senken und uns dadurch gesünder, glücklicher und produktiver machen. Dank des wachsenden Angebotes, nehmen auch immer mehr Leute stresspräventive Angebote wie Mediation und Yoga wahr. Die Krankenkassen supporten viele Kurse und viele Kurse gibt es, dank immer neuer Studios – der Yoga-Markt boomt.

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Ein schmaler Grat zwischen Kommerz und Spiritualität

"Welcome to class!" Teure Kleidung, speziell für's Yoga. Teure Matten mit besonderer Beschichtung. Teure Taschen, in die man die teure Kleidung und Matte stecken kann, eine Boutique im Vorraum des Yoga-Studios und eine Masse von Yoga-Influencern, die sich mit weisen Patanjali-Zitaten im Handstand in teuren Yogahosen am Strand ablichten und dafür sehr viel Geld bekommen – in einigen Ausprägungen sieht das alles nach Kommerz statt Entspannung aus. Ist das dann noch Yoga?

Vor ungefähr 2.200 Jahren definierte der indische Gelehrte Patanjali im Yoga Sutra Yoga als jenen inneren Zustand, in dem die seelisch-geistigen Vorgänge zur Ruhe kommen. Patanjali beschrieb einen achtgliedrigen Leitfaden, der zu diesem Zustand führen sollte. Und Überraschung, fancy Hosen, Handstand und Geld gehörten nicht dazu. Im Gegenteil. 

Der achtgliedrige Pfad des Yoga

  • 1. Yamas – Achtsames, gewaltloses Verhalten gegenüber anderen und der Umwelt.
  • 2. Niyamas – Hingabe und Achtsamkeit gegenüber dem eigenen Körper und Geist.
  • 3. Asana – Das sind die körperlichen Übungen, die wir als Yoga kennen.
  • 4. Pranayama – Kontrolle und Beobachtung des Atems. (s. Übungen weiter unten)
  • 5. Pratyahara – Rückzug der Sinne ohne willentliche Aktivität, Geistessammlung durch Pranayama.
  • 6. Dharana – Konzentration. Fixieren des Geistes auf einen Punkt oder auf einen bestimmten Ort.
  • 7. Dhyana – Meditation. Wenn du in der Konzentration so fokussiert bist, dass du keine anderen Gedanken hast.
  • 8. Samadhi – Freiheit. Tiefe Meditation, auch "vierter Bewusstseinszustand" genannt.

Wie jede Philosophie, kann das Yoga Sutra Hilfe für moralische und persönliche Problemstellungen liefern. Obwohl die Grundsätze des Yoga mehrere Jahrtausende alt sind und einer anderen Kultur entstammen, sind viele auch in der westlichen Kultur tief verankert. Was bei Patanjali Yamas ist, findet sich zum Beispiel in der Bibel, in Kants kategorischem Imperativ und sogar im deutschen Grundgesetz wieder. So lassen sich trotz zeitlicher und kultureller Distanz nahezu alle Leitsätze in unseren Alltag übertragen und richtig angewendet durch sie unser Stresspensum verringern.

Man sollte hierbei nicht in Whataboutism verfallen – Ziel ist nicht die Liste strickt abzuarbeiten und dadurch im Zweifelsfall noch mehr Stress zu generieren, sondern vielmehr einen Anfang zu machen, eigene Interpretationen zu finden und ein Bewusstsein für die eigenen Bedürfnisse und Grenzen zu entwickeln.

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Wer spricht, dem wird geholfen?

Körperliche Grenzen zu erkennen, gehört eigentlich zu unseren Urinstinkten. Nun leben wir in einer digitalen Welt, in der uns Apps verraten, was unser Körper wann braucht, wieviele Schritte wir am Tag gehen, wann wir schlafen sollen, wann wir fruchtbar sind und ob wir lange genug die Zähne geputzt haben. Einerseits sehr praktisch, sich darüber keine Gedanken machen zu müssen, je mehr wir diese Dinge jedoch outsourcen, desto mehr verlernen wir auch die Sprache unseres Körpers. Dabei kann er uns am besten signalisieren, was er braucht und ob etwas nicht stimmt. Dafür müssen wir allerdings zuhören!

Meist gründet unser Warnsystem aber auf äußeren Einflüssen und die schlagen oft erst an, wenn es eigentlich schon zu spät ist. Zum Beispiel wenn wir psychisch oder physisch krank werden. Dann wird uns beispielsweise bewusst, wie toll ein funktionierendes Immunsystem ist. In Extremsituationen erkennen wir die Essenz unseres Daseins und unserer Bedürfnisse.

Yoga kann helfen, dieses Bewusstsein herzustellen bevor eine Extremsituation entsteht, ohne andere Dinge im Leben auszuschließen. Nur arbeiten ist nicht die Lösung, nur Yoga natürlich auch nicht. Aber in seinem Arbeitsalltag bewusst Agieren, Zuhören und Beobachten, den Atem, Puls, Schmerzen, Appetit, die Haut, kann man nicht zu viel.

Genau so, wie wir versuchen unserem Körper alle wichtigen Nährstoffe durch Nahrung zuzuführen, sollten wir auch unsere Psyche ausgewogen versorgen. Das macht gesünder, glücklicher, konzentrierter und produktiver.

 

Tools für den Arbeitsalltag

So wie der Körper auf Stress mit der typischen Kampf- oder Fluchtreaktion reagiert, lässt sich mit Yogaübungen bewusst das Gegenteil bewirken. Die Übungen wirken über hormonelle Botenstoffe und das vegetative Nervensystem. Der Cortisolspiegel sinkt bei manchen Meditationsübungen sogar um 50 Prozent, wie Studien des Max-Planck-Instituts für Kognitions- und Neurowissenschaften zeigen. Und wie schafft man es den Blick nach innen zu richten, ohne schon nach zwei Sekunden gedanklich Einkaufslisten zu schreiben, E-Mails zu formulieren oder Wochenendpläne zu schmieden?

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Die folgenden einfachen Übungen lassen sich leicht in den Alltag integrieren und können bei regelmäßiger Praxis mehr innere Ruhe bringen. 

Übung 1: Atemmeditation

Die erste Übung lässt sich überall durchführen und ist auch für Anfänger geeignet. Hierfür setzt oder legst du dich bequem und gerade hin. Wenn möglich, wähle einen ruhigen Ort (Kaffeeküche, Bürostuhl oder auch Toilette, ja), schließe deine Augen und konzentriere dich auf deinen Atemfluss. Die Einatmung erfolgt durch die Nase, die Ausatmung durch den Mund. Jeder Atemzug ein und aus sollte mindestens vier Sekunden dauern. Wenn Gedanken dazwischen kommen, ist es zur Fokussierung hilfreich, die Atemzüge zu zählen oder bei jeder Einatmung zu denken "Ich atme ein" und bei jeder Ausatmung "Ich atme aus". Schon 2-3 Minuten reichen aus.

Übung 2: Visuelle Meditation

Bei dieser Übung meditierst du mit geöffneten Augen und konzentrierst sich auf etwas Bestimmtes. Nimm hierfür aber nicht Telefon oder Computer. Der Gegenstand sollte in Augenhöhe und in einigen Metern Entfernung sein. Konzentriere dich etwa 10 Sekunden nur auf diesen Gegenstand, schau dann kurz zur Seite und schau dann erneut wieder auf diesen Gegenstand. Wiederhole sie diese Übung 5-10 Minuten und atme dabei gleichmäßig. Diese Übung lässt sich sehr unauffällig von deinem Arbeitsplatz aus machen. 

Übung 3: Lächeln

Wer sich schonmal eine der vielbesuchten Vorlesungen von Vera F. Birkenbihl auf YouTube angesehen hat, kennt das Phänomen bereits: Unser Körper ist leicht auszutricksen. Wenn wir die Mundwinkel nach oben ziehen, also lächeln (ganz egal, ob es dafür einen Anlass gibt), senden die Nerven unserer Gesichtsmuskulatur das Signal an unser Gehirn, dass wir glücklich sind. Daraufhin schüttet das Gehirn Glückshormone aus. Ab 5 Minuten Lächeln lässt sich dieser Effekt bereits feststellen. Ein positiver Nebeneffekt ist, dass ein Lächeln sich auch positiv auf unseren Gegenüber auswirken kann. Lohnt sich also doppelt.

Es gibt eine Vielzahl von Meditationsübungen und Asanas und nicht für alle Menschen sind die gleichen Übungen gleich sinnvoll und hilfreich. Wenn du interessiert bist, lohnt es sich verschiedene Techniken kennen zu lernen und auszuprobieren. Oft sind es nur kleine Dinge, die bei regelmäßiger Praxis einen großen Unterschied bringen können. Wie bei allem, muss man auch beim Yoga Geduld bewahren und üben.

Aber Patanjali beschreibt Yoga ja auch als Zustand und nicht als Ort, an dem wir ankommen müssen. 

Fazit

Der Blick nach Innen kann sich lohnen. Wer sich gestresst fühlt oder Stress vorbeugen möchte, findet im Yoga verschiedene Tools um zur Ruhe zu kommen und diese auch in sich selbst zu finden. Es bedeutet also nicht, ein Abo abzuschließen, teure Hosen zu kaufen und auf Händen zu stehen. Viel mehr bedeutet Yoga Strategien zu erlernen, achtsam zu leben, dem eigenen Körper zu vertrauen und auch im lauten Geschrei des Alltags die Ruhe in sich selbst finden zu können.

Themen: JUNGMUT, Nachhaltigkeit, Content, Unternehmenskultur, Trends, Achtsamkeit