First Kiss oder Bezahlte Küsse

Von Laura Richeling am 07. April 2014

Schüchterne und verhaltene Blicke. Augenkontakt. Aufregung. Warmes Kribbeln - auf der Haut und im Bauch. Die erste Berührung kaum spürbar. Und dann ein Kuss, zart und zaghaft. Herzklopfen. Von Null auf Nähe.

 von: Laura Richeling

Wie viel Markenpräsenz im viralen Content-Marketing ist eigentlich okay?

Der erste Kuss zwischen zwei Fremden – intim, aufregend und für ein paar Tage das meist geteilte, diskutierte und kommentierte Phänomen im WorldWideWeb. Die Rede ist vom Video “First Kiss” der Künstlerin Tatia Pilieva. 70 Millionen Aufrufe in zwei Wochen auf Youtube, fast 2 Millionen auf Vimeo, unzählige Kommentare und vor allem Medienberichte. Der Tonus immer gleich: Die Menschen sind fasziniert und auf wundersame Weise zutiefst berührt.

Und man kann es ihnen nicht verübeln. Das Video wirkt ästhetisch, hochemotional, brutal ehrlich und authentisch. Aber genau das ist es scheinbar nicht – authentisch.

 

Auf dem Boden der Tatsachen

Das künstlerisch wahrgenommene Video entpuppt sich als Werbung, die vermeintlichen Fremden als gecastete Schauspieler und Models. Das Netz ist enttäuscht und der Clip entzaubert. Zu schön um wahr zu sein. Aber ist die Enttäuschung berechtigt? Wurde das Video nicht deutlich genug als Werbung gekennzeichnet?

Fakt ist: Zu Beginn des Videos wird kurz aber deutlich “WREN presents” eingeblendet. Dies ist das Fashion Label, welches die Darsteller für das Video eingekleidet hat und so Werbung für seine Herbst/Winter Kollektion 2014 macht. Von Täuschung kann also eigentlich nicht die Rede sein. Trotzdem fühlt sich die Netzgemeinde betrogen. Anmutung und Stimmung des Videos lassen schließlich anderes vermuten.

Dem Fashion Label wird eine raffinierte Werbemasche nachgesagt – virales Marketing erster Klasse. Und während WREN-Gründerin Melissa Coker die Echtheit des Ganzen beteuert, fragen wir uns, wie sehr ein Unternehmen tatsächlich im Fokus von Content Marketing stehen muss. Ist es legitim, wenn ein Unternehmen im Umgang mit seinen distribuierten Inhalten nur halbtransparent agiert?

 

Get emotional

Klar ist, dass aus Marketingsicht grundsätzlich auf werbende Absichten aufmerksam gemacht werden muss. Alles andere wäre Schleichwerbung. Aber hier sind die Grenzen dehnbar und nicht klar gesteckt. Stichwort: Produktplatzierungen und ‘Below-the-line Marketing’. Letzteres umfasst unter anderem auch das Content Marketing:

Unternehmen bzw. Marken versuchen mit Hilfe von Storytelling und crossmedialen Kampagnen eine Beziehung zum Kunden aufzubauen. Werbung im Content Marketing geht über die reine Produktinformation hinaus. Es geht um Inhalte mit Mehrwert, Relevanz und Authentizität. Je weniger klassisch werbende Inhalte zum Kunden durchdringen, desto eher besteht die Möglichkeit auf eine erfolgreiche und loyale Kundenbindung. Authentische Bilder und emotionale Themen sorgen für den richtigen Effekt, zielen in erster Linie auf Empathie und Emotionalität des Rezipienten.

Genau genommen kann sich die Frage nach Transparenz beim Pull- bzw. Below-the-line-Marketing nicht stellen. Schließlich handelt es sich um Werbung, die darauf ausgelegt ist, nicht direkt als solche erkannt zu werden.

Unternehmen wie Dove, Schwarzkopf oder Chevrolet haben es vorgemacht: große virale Kampagnen, hochemotionale Inhalte, erfolgreiches Content Marketing und alles mit kleinstmöglichem Markenbezug. Aber wo ist der Unterschied zwischen diesen Werbeclips und dem von WREN? Warum werden die einen Werbevideos als legitim wahrgenommen, andere aber als berechnete Täuschung?

Die Herangehensweise ist grundsätzlich gleich. Alle Unternehmen setzen in ihrer Werbung auf Nahbarkeit, Gefühl, Herz. Denn: Werbung ohne emotionalen Bezug zum Produkt oder zur Marke wird ignoriert und erzeugt seltener virale Effekte.

Einziger aber wichtiger Unterschied ist, dass trotz kleinstmöglichem Markenbezug die Verbindung zum Unternehmen stets klar erkennbar ist. Sei es durch eindeutige Produktplatzierungen, Werbeslogans oder Einblenden des Logos. Dinge, die dem First Kiss Video offenbar fehlen. Schließlich handelt es sich bei der anfänglichen Einblendung “WREN presents” nicht um das offizielle Firmenlogo, sondern um neutralen Text ohne erkennbare Verbindung zum Unternehmen oder Wiedererkennungswert. Darüber hinaus ist die Marke auch im Kopf des Nutzers noch nicht allzu präsent.

Bestes Beispiel: Mit seiner weltweit erfolgreichen* und viralen Kampagne “Real Beauty Sketches” verfolgte das Kosmetikunternehmen Dove das gleiche Konzept wie WREN. In beiden Clips werden starke Emotionen geboten, es gibt keine offensichtliche Werbebotschaft, beide Videos wirken primär nicht absatzorientiert. Der Fokus liegt klar auf Imagebildung und Mehrwert. Kleiner aber entscheidender Unterschied: Dove blendet am Ende des Clips das eigene Logo und Werbeslogan ein. Gepostet und distribuiert wurde das Video außerdem nur über offizielle Dove-Kanäle.

Dem steht das First Kiss Video gegenüber. Hier gibt es keine effektive Einbindung eines offiziellen Firmenlogos oder Slogans. Das Video wurde zuerst von der beteiligten Künstlerin geteilt, nicht von offizieller Unternehmensseite. Eine Verbindung zur Marke konnte also nicht ohne weiteres hergestellt werden.

Selbst Journalisten und Bloggern war der Unterschied zwischen Werbung und Content zunächst nicht bewusst. Laut den Blogrebellen ist dies der Moment, in dem beide Elemente zu einem verschmelzen und “Werbung zum Inhalt” wird. Man kann der Netzwelt die Aufregung über die vermeintliche ‘Täuschung’ also nicht verübeln, hat WREN doch scheinbar alles dafür getan das Video möglichst intransparent zu kommunizieren.

Eine Taktik die in Bezug auf Viralität und Distribution zunächst aufzugehen scheint. 78 Millionen Views lügen nicht. Tatsache ist aber, dass ein und dieselbe Taktik das Unternehmen und seine Markenbotschaft beim Rezipienten unehrlich und berechnet wirken lässt. Negative Eigenschaften, die schnell mit einem Unternehmen verknüpft sind, sich aber nur schwer wieder neutralisieren lassen. Dass das Video zu den erfolgreichsten viralen Spots aller Zeiten gehört, steht außer Frage. Dass WREN sich mit seinem intransparenten Handeln aber keinen Gefallen getan hat, leider auch. Denn in einem Bereich wie Content Marketing, bei dem es in erster Linie um Kundenbindung und Imagebildung geht, wirken Attribute wie Intransparenz und Unehrlichkeit eher kontraproduktiv.

Muss ein Unternehmen also im Fokus von Content Marketing stehen? Nein. Der Fokus kann und sollte ohne weiteres auf dem Produkt, der Story, relevanten Inhalten und/ oder der Werbebotschaft liegen. Genau das unterscheidet schließlich Pull- von Push-Marketing. Halbtransparentes Agieren aus Gründen des Erfolgs ist aber weder notwendig noch legitim. Content Marketing und virales Marketing funktionieren zum einen auch mit klarem und offen kommuniziertem Markenbezug. Zum anderen haben Unternehmen dem Verbraucher gegenüber noch immer eine gewisse Verantwortung – auch wenn dies gerne ignoriert wird.

Auch wenn wir als ständiger Rezipient von Medien mit deren Inhalten umgehen können und kritisch hinterfragen sollten, haben wir dennoch nicht das nötige Verständnis und die Fähigkeit zu Differenzieren. Ein künstlerischer Anspruch und dezente Werbeelemente bei der Umsetzung einer Kampagne sind in Ordnung. Werbung ohne klar erkennbare, sales-orientierte Werbebotschaft? Sehr gerne! Wichtig ist aber, dass der Rezipient weiß, wer hinter dem Ganzen steckt.

FIRST KISS from Tatia Pilieva on Vimeo.

*Stand Mai 2013: weltweit über 170 Millionen views in 110 Ländern, in 25 Sprachen und auf 33 Dove Youtube-Channels hochgeladen worden, 3,7 Millionnen mal geteilt, davon 3,1 Millionen mal in den ersten zwei Wochen, etwa 4 Milliarden PR- und Blogger-bezogene Medienberichte

Themen: Branding, Content Marketing, Storytelling